Kalliope – eine ungewöhnliche Fundgrube für Familienforscher
Vor kurzem habe ich einen Ausflug in die Bayerische Staatsbibliothek in München gemacht. Das ist in diesen Corona-Zeit nicht so ohne weiteres möglich und bedarf einer gewissen Vorbereitung. Aber das ist für uns Ahnenforscher natürlich nichts Neues. Was ich in der Stabi in München gemacht habe und was mich zu diesem Besuch bewogen hat, erfährst Du in den folgenden Zeilen.
Die erste gesellschaftlich entschleunigtere Phase im April 2020 hatte ich damals intensiv für meine eigene Ahnenforschung genutzt. Wer meinen Blog bereits länger verfolgt, hat sicherlich schon mein Faible für Datenbankplattformen und Metasuchmaschinen aller Art mitbekommen. Immer wieder laufen mir solche hilfreichen Portale über den Weg, und um sie zu testen, verwende ich gern eine Handvoll Familiennamen aus meiner Forschung, die zum Glück (bis auf ausgerechnet Klein, haha) allesamt eher wenig verbreitet bis selten sind.
Und vor einem Jahr stieß ich wieder auf eine solch nützliche Plattform: Kalliope.
Was ist Kalliope?
Hier ist die Eigenbeschreibung auf der Webseite von Kalliope:
Kalliope ist der überregionale Verbund und zugleich das nationale Nachweisinstrument für Nachlässe, Autographen und Verlagsarchive.
Der Aufbau des Verbundes erfolgte durch die Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz (SBB-PK) mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) 2001. Der Verbund löste die Zentralkartei der Autographen (ZKA), die seit 1966 ebenfalls mit Unterstützung der DFG von der SBB-PK geführt wurde, ab.
Das innovative Konzept, den Katalog als einen Verbund von Bibliotheken, Archiven, Museen und verwandten Einrichtungen weiterzuentwickeln, hat die Etablierung einer redaktionell betreuten, normdatengestützten und regelkonformen Erschließung gefördert. Das Konzept beschränkte sich somit nicht auf die Konversion von Katalogen, sondern führte neue Instrumente und Verfahren für die Nachlasserschließung ein.
Der Grunddatenbestand von Kalliope sind die 1,2 Millionen Karteikarten der ZKA mit Einzelnachweisen aus fast 450 Institutionen in der Bundesrepublik Deutschland. Ihre Konversion in eine Datenbank erfolgte bis 2006. Ebenfalls konvertierte die Arbeitsstelle zusätzlich diese Sammlungs- und Nachlassverzeichnisse:
- Denecke, Ludwig/Brandis, Thilo: Die Nachlässe in den Bibliotheken der Bundesrepublik Deutschland. Boppard, 1981
- Deutsch, Jan-Georg/Halene, Ingeborg: Afrikabezogene Nachlässe in den Bibliotheken und Archiven der Bundesländer Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern. Berlin, 1997
- Jaenecke, Joachim: Verzeichnis der Musiknachlässe in Deutschland. Berlin, 2000
- Hanisch, Ludmila: Verzeichnis der Orientalistennachlässe in deutschen Bibliotheken und Archiven. Halle, 2000
- Niggemann, Elisabeth (Hg.): Literarische Nachlässe in Nordrhein-Westfalen. Ein Bestandsverzeichnis. Wiesbaden, 1995
- Spalek, John M./Asch, Adrienne/Hawrylchak, Sandra H.: Verzeichnis der Quellen und Materialien der deutschsprachigen Emigration in den USA seit 1933 . Charlottesville, 1978
- Spitzer, Gabriele: Die Nachlässe in den Bibliotheken, Museen und in weiteren Einrichtungen der Bundesrepublik Deutschland in den Ländern Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Sachsen, Berlin, ehemals DDR, Thüringen. (nicht publizierte Materialsammlung)
Neben den Beständen in der Bundesrepublik Deutschland werden zunehmend auch Nachlässe von Personen des öffentlichen Lebens in Österreich und der Schweiz sowie Nachlässe von Personen mit deutschsprachiger Herkunft in anderen Ländern, hier vor allem den Vereinigten Staaten von Amerika, im Angebot dieses Katalogs ergänzt.
Seit 2001 besteht die Möglichkeit, Online-Findbücher für Nachlässe, Autographen und Verlagsarchive mithilfe einer Erschließungsplattform regelwerkskonform, normdatengestützt und redaktionell betreut zu erarbeiten. Wurde diese Option in 2010 noch von 54 Einrichtungen genutzt, waren es im Mai 2015 bereits 102 Organisationen.
Weiterhin können Daten aus lokalen Anwendungen auf Basis des XML-basierten Austauschformats Encoded Archival Description (EAD) für die Indizierung bereitgestellt werden. Insgesamt sind so aktuell über 19300 Bestände aus über 950 Einrichtungen mit insgesamt über 3 Millionen Verzeichnungseinheiten online, das sind:
- Metadaten über Korrespondenzen, Manuskripte, Akten des privaten und beruflichen Lebens, Tagebücher, Stammbücher, Vorlesungsmitschriften, Fotografien, Plakate, Filme, Musik, aber auch Haarlocken, … von und über 600000 Personen sowie 100000 Organisationen.
- Von diesen sind weit über 200000 Personen und 21000 Organisationen eindeutig identifiziert und mit der Gemeinsamen Normdatei (GND) der Deutschen Nationalbibliothek (DNB) über verknüpft. Der gesamte Datenbestand wuchs in den vergangenen vier Jahren im Schnitt pro Jahr um 20 Prozent.
Als ich das las, dachte ich mir: Irre. Was für eine spannende Datenbank! Auch für uns Ahnenforscher. Und wie lange es die schon gibt! Bin gespannt, welche Einrichtungen und Objekte da zukünftig noch dazukommen werden.
Wie ich auf Kalliope stieß: Ein Exkurs ins vorzaristische Rußland
Jetzt, wo ich die meinem Bibliotheksbesuch vorausgehende Recherchereise noch einmal Schritt für Schritt für diesen Beitrag rekapituliere, fällt mir wieder einmal auf, was sicherlich jeder Annenforscher schon erlebt hat:
Man stellt sich eine brennende Forscherfrage, begibt sich auf die Recherche – und am Ende tun sich spannende und vor allem völlig unerwartete Dinge auf!
Aber mal von Anfang an.
Wenn Du die Startseite meines Blogs schon einmal besucht hast, kennst Du sicherlich das sepiafarbene Titelbild. Dabei handelt es sich um eines meiner ältesten und liebsten Bilder aus meinem Familienbilderfundus. Es wurde 1892 in Terijoki (heute Зеленогорск) aufgenommen und zeigt die Familien Skron und Peto, meine Vorfahren väterlicherseits aus St. Petersburg in Rußland, vor ihrem Sommerhaus.
Meine Urgroßmutter Wanda Skron ist das junge Mädchen im Alter von 13 Jahren vorne links. Wer die meisten anderen auf dem Bild waren, konnte ich dank einer mitüberlieferten Legende auf Pergamentpapier nachvollziehen, auf der die Personenumrisse beschriftet mit dem jeweiligen Namen aufgemalt waren.
Einzig wer der Mann mit dem dunklen Hut in der Mitte des Bildes ist, blieb unklar. Die Vermutung lag nahe, daß es sich um den Ehemann einer der Peto-Schwestern handelte.
Bei meinen Recherchen nach Daten zu Heiraten und Geburten rund um das Jahr 1888 (Vermutung anhand des geschätzten Alters des Kindes auf dem Schoß) stieß ich schließlich auf einen passenden Eintrag in der Erik-Amburger-Datenbank.
Der Mann – und Schwager meiner Ururgroßmutter Agnes Peto – könnte also ein gewisser Rudolf Wilh.(elm) Christ.(ian) Gummert sein.
Eine einfache Suchmaschinensuche brachte Erstaunliches zu Tage: Rudolf Gummert war zunächst im zaristischen Russland und später auch in der Sowjetunion als Musiker, Komponist und Begründer einer Musikhochschule in Kasan eine Berühmtheit. Ein eigener Wikipedia-Eintrag klärt über sein Wirken auf.
Und tatsächlich gibt es heutzutage sogar einen Musikwettbewerb für Nachwuchsmusiker in Rußland, der seinen Namen trägt (Gummertfest).
Und um nun den Bogen wieder zum Anfang zu schlagen: eine komplexere Google-Suche (Tricks und Kniffe dazu erfährst Du in meinem Buch Google – das mächtige Werkzeug für Deine Ahnenforschung und dem gleichnamigen interaktiven Online-Kurs) führte mich schließlich auf die Spur von Kalliope. Denn im Bestand von Kalliope war ein Hinweis auf Rudolf Gummert gelistet.
Beim genaueren Hinsehen war ich baff: Ein Treffer ausgerechnet in der Bayerischen Staatsbibliothek! Tatsächlich befindet sich also nur 3km(!) von meiner Wohnung entfernt ein Artefakt meines Anverwandten, das vor über 100 Jahren den weiten Weg aus dem rund 3.000 km entfernten Kasan in Tatarstan zurückgelegt hat – als Geschenk für den berühmten Geiger Henri Marteau. Faszinierend!
Bibliotheksbesuch in Corona-Zeiten
Nachdem mein Fund etwa 1 Jahr in meiner genealogischen Aufgabenliste geschlummert hatte, ist er mir vor kurzem wieder ins Blickfeld geraten. Warum nicht endlich herausfinden, was sich hinter diesem Datenbankeintrag verbirgt? Gesagt, getan.
Als Ahnenforscher gehen wir zwar in den seltensten Fällen unvorbereitet in ein Archiv oder eine Bibliothek. Die ungewöhnlichen Zeiten seit März 2020 erfordern jedoch zusätzliche Planung. Neben der rechtzeitigen Bestellung des Objektes in den Lesesaal der Staatsbibliothek ein paar Tage vorher ist es aktuell notwendig, auch einen Arbeitsplatz im Lesesaal zu reservieren. Für den nächsten Tag konnte ich nachmittags – dank Freitag und schönem Wetter – noch den letzten freien Platz ergattern.
Durch eine Anfrage an die Fachabteilung hatte ich zuvor schon erfahren, daß ich überhaupt die allererste bin, die das Objekt jemals zur Ansicht bestellt hat – und daß es sich auch nicht, wie falschlicherweise angegeben, um einen Brief sondern um Noten(!) mit einer persönlichen Widmung handele. Von einem Musikstück, daß Rudolf Gummert selbst komponiert hatte!
Entsprechend neugierig war ich – und erlebte es dann auch als einen ganz besonderen und ehrfürchtigen Moment, in diesem wunderschönen Tempel des Wissens, die Notenblätter in den Händen zu halten, die aus einer Musikalienhandlung im fernen Kasan stammten. Und die der Mann auf dem Foto im Jahre 1913 in den Händen hielt und mit einer handschriftlichen Widmung versah. Gänsehautalarm!
Natürlich sind die wenigsten unser Vorfahren und Verwandten in irgendeiner Form berühmt gewesen, aber durch die verrücktesten Zufälle kann es passieren, daß dennoch Spuren von ihnen in den Datenbeständen einer Datenbank wie Kalliope landen. Und wir dann Jahrzehnte später zu unserer großen Freude ganz unerwartet auf sie stoßen.
Probier doch einfach mal eine Recherche mit Deinen Familiennamen aus.
Du bist fündig geworden? Dann laß uns hier im Kommentarbereich daran teilhaben.
Guter Tipp, da findet sich jede Menge Material zu meinem mutmaßlichen Urururgroßvater Frank Buchser. Vielleicht finde ich ja doch noch heraus, wo er sich zur Tatzeit befunden hat …